„Kann dieses Pack nicht mal Zahlen lesen?“

Eigentlich könnte ich hier jetzt die Geschichte einer „gelungenen Integration“ schreiben. Oder die Geschichte eines jungen Pärchens, das Eltern wurde und mit all den neuen Umständen versucht, gut zurecht zu kommen.
Eigentlich.
Doch was zählen schon Wille, Fleiß und das beständige Streben nach einem normalen Leben, wenn bereits das Aussehen die Herkunft verrät?

Vorurteile

Naturgemäß bin auch ich nicht frei davon.Vielleicht unterscheiden sich meine Vorurteile von denen der Mitmenschen aber dadurch, dass ich dennoch offen bin, um mich stets eines Besseren belehren zu lassen. Und aus diesen Lehren auch zu lernen bereit bin.
Ich halte nicht an meinen Vorurteilen fest, und damit reduzieren sie sich nahezu zwangsläufig.Fast 😉 habe ich sie mittlerweile völlig auslöschen können.
Letztlich sind wir alle Mitglieder der Menschenfamilie, leben alle unter der gleichen Sonne. Und dass es in Familien auch Onkel und Tanten gibt, mit denen man nur schwer zurecht kommt, weiß jeder, der Familie hat…

Voller Warteraum

Am Tag, als ich „Paten-Oma“ wurde, war Hektik im Kreißsaal, ein Notkaiserschnitt wurde eingeleitet, „mein Enkel“ musste auf das Licht der Welt zunächst warten.
Die Familie der jungen Frau, welche ihr Baby zur Welt brachte, war auf den ersten Blick bereits den Roma zuzuordnen. Während des Wartens kam ich in’s Gespräch mit dem werdenden Kindesvater. Ein angenehmer junger Mann, sehr, sehr höflich und kommunikativ.
Er lebt mit seiner Familie seit 8 Jahren in Deutschland, alle Familienmitglieder gingen einer regulären (und schlecht bezahlten) Arbeit nach, bis bei den Eltern Erwerbsunfähigkeit eintrat.
Der junge Mann selbst steht kurz vor der Abschlussprüfung eines kaufmännischen Berufes, möchte danach die Ausbildungszeit anrechnen lassen und sein Abitur machen.

Die minderjährige Mutter…

war ursprünglich nur „Gast“. Ihre Eltern leben irgendwo in einem anderen EU-Staat, die Familien kennen sich.Die jungen Leute verliebten sich, das Mädel wurde schwanger und der -nunmehr- Kindesvater hat die Verantwortung übernommen. Er will für seine Familie eintreten, er möchte, dass sein Kind hier die Chancen bekommt, die er selbst bekam (und wahrnahm), er möchte, dass seine zukünftige Frau sich bildet und einen Schulabschluss macht, später dann eine Ausbildung.
Vom Scheitern aller Versuche – inklusive der Vorsprache bei der MainArbeit – berichtete er mir deshalb so offen, weil er sich zuvor mit dem Vater meines „Paten-Enkels“ auf rumänisch unterhielt und so erfuhr, dass ich versuche zu helfen, wenn Not am Mann ist…ohne Ansehen der Person.

Fahrendes Volk

Da es um vormundschaftliche Belange geht, sprach ich zunächst mit beiden jungen Leuten im ASD (allgemeiner sozialer Dienst) vor.Diese Beratung war durchaus angenehm, da völlig ohne wahrnehmbare Ressentiments.
Völlig anders dann in der eigentlichen Vormundschaftsstelle des Jugendamtes.Die Ablehnung, ja, sogar ein sichtbares Angewidertsein war im Gesicht der Mitarbeiterin zu lesen.
Es fiel mir schwer, Ruhe zu bewahren, denn von Anbeginn an waren auch verbale Entgleisungen und damit völlige Unprofessionalität festzustellen.
Als dann noch Sprüche kamen wie:“…dann muss die junge Frau halt zurück zu ihrem fahrenden Volk“ war auch meine Contenance am Ende.
Bereits bei seinen ersten Versuchen, Legalität zu schaffen, musste sich der junge Mann bei der MainArbeit anhören, er sei kriminell, da er eine Minderjährige geschwängert habe…
Und dann so etwas.
Nachdem ich meine Stimme etwas gehoben hatte und anmerkte, dass derart Stammtisch-Geschwafel in Amtsräumen nichts zu suchen habe, dass wir hier um Beratung und das Aufzeigen der nächsten Schritte nachsuchen, klappte es dann auch endlich mit der gebotenen Sachlichkeit.

Im Familiengericht

Tags drauf ging ich mit der jungen Mutter und ihrer „Schwägerin“ dann zum Familiengericht, um Antrag auf Vormundschaft durch die Großmutter väterlicherseits zu stellen, sowohl die minderjährige Mutter als auch das Baby betreffend.
Der uniformierte Bedienstete (Beamter, kein Sicherheitsdienst) war sichtlich genervt, als es wir den Aufzug betraten. Ein kurzes Innehalten unsererseits – sind wir im richtigen Stockwerk? – veranlasste ihn, bei schließender Tür zu äußern:“…nicht mal Zahlen lesen kann das Pack, wohl nur drei Jahre Schule gemacht“.
Merke: Es genügt mittlerweile völlig, mit Menschen, die erkennbar den Sinti oder Roma angehören, unterwegs zu sein, um als „Pack“ tituliert zu werden.
Die Dame in der Antragsstelle war dann wieder sachlich-freundlich und angenehm professionell.

Mein erstes Fazit

Die Abneigung, die uns entgegenschlug, war in Teilen erschreckend, das Herrenrasse-Denken ist häufig wahrnehmbar.
Nein,man muss nicht jeden Menschen lieben (schön wär’s dennoch). Sich jedoch derart über Menschen auszulassen, nicht einmal  verbergen zu wollen gemäß „political correktness“, dass man sie für Abschaum hält, das ist einfach nur entsetzlich.
Dass die Freizügigkeit innerhalb der EU existiert, ist eine politische Entscheidung.Den Menschen, die aus teils bitterster Armut heraus in das „gelobte Land“ gehen, um dort ihr Glück zu versuchen, ist das nicht anzulasten.Sie suchen nach Chancen…wer täte es nicht?
Die Folgen der Freizügigkeit waren durchaus vorhersehbar, doch  anstatt sich dem EU-Wahn zu widersetzen, prügelt man lieber auf die ein, die ohnehin am untersten Ende der Nahrungskette stehen – nach oben buckeln, nach unten treten – (der Deutsche beherrscht das noch immer perfekt)

Für mich ist klar, dass ich den jungen Menschen weiterhin durch den Bürokratiedschungel helfen werde, einfach, weil es Menschen sind.Spätestens wenn wir bei der MainArbeit dann Leistungen beantragen, kann es wieder „spaßig“ werden.
Nur mit dem Gehalt des Kindesvaters nach Ende der Ausbildung wird es leider für die kleine Familie nicht gehen.Wenn er – und das hoffe ich inständig – an seinen Bildungsplänen festhält, schon mal gar nicht…es bleibt also „spannend“.

Ein letztes Wort noch in’s Stammbuch derer, die rassistische Sprüche klopfen und nicht einmal erkennen, dass sie es tun:
Stellt Euch bitte der Realität. Diese Menschen sind hier, ob Euch das passt oder nicht,punktum.
*Und wäre es aus Eurer Sicht auch noch so schön, „zurückfi**** und abtreiben“ funktioniert nun mal nicht und auch früher angedachte „Endlösungen“ waren und sind nicht probat.
Euch bleibt also nur Akzeptanz, so einfach ist das!
*Den bitteren Zynismus dieser Worte bitte ich mir nachzusehen…

Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen, wie die Fische zu schwimmen; doch wir haben die einfache Kunst verlernt, wie Brüder zu leben

Martin Luther King

Wer betrügt, der fliegt

 

Mit dem Slogan „Wer betrügt, der fliegt“ startete die CSU zum Beginn des Doppelwahljahrs 2014 eine Kampagne gegen Armutsmigration aus Osteuropa.
Dieser Art geistiger Brandstiftung kann mensch auf vielerlei Arten begegnen. Launig und schwarzhumorig ist eine Möglichkeit, von der gerade „im Netz“ viel Gebrauch gemacht wird.


Auch mir schossen da sofort einige bajuwarische Zeitgenossen durch den Kopf, seien es der „Gel-Gutti“

oder der FC-Bayernpräsident, hier ein BILD nach seinem Flug

Kein Stück witzig…

sind hingegen Ereignisse im Freistaat, die durchaus (auch) auf derartige und ähnliche geistige Brandstiftung zurück zu führen sein können.
Feuer im Asylbewerberheim Gmünden (Unterfranken)

Intelligent-eloquent, mit Biss ohne bissig zu sein…

…so möchte ich die Abhandlung zu diesem Thema bezeichnen, welche der von mir sehr geschätzte Autor Holdger Platta hierzu verfasste.
Auf diesem Weg nochmals herzlichen Dank für die Erlaubnis, diese veröffentlichen zu dürfen 🙂

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“Wer betrügt, fliegt”

Holdger Platta ©

 Gestern, jawohl, musste sogar ich einmal einen dieser ‚Businessliner’ nehmen, einen ‚Flieger’ von Hannover nach Berlin. Unaufschiebbare Familiensache, hier nicht weiter von Belang. Aber was traf ich da so alles auf diesem Flug in die bundesdeutsche Hauptstadt? Und was hörte ich da so alles? Ich füge hinzu: widerwillig genug!

 Nun, ich bediene mit meinem Bord-Service erstmal unser aller Augensinn.

 Fast nur Männer waren in diesem Flugzeug zu sehen. Und fast alle im Anzug, in hellen Hemden und edlen Schuhen, mit obligater Krawatte unter dem Hals. Nahkampfkleidung also der bundesrepublikanischen Geschäftswelt, Deutschlands Wirtschaftselite im feinen Zwirn. Und diese Gesichter! Können Gesichter aus Routine bestehen? Diese Gesichter konnten es. In einer Mixtur aus Eiseskälte und Höflichkeit, aus Glätte, Härte und Schlaumeierei. Das gibt es nicht? – Doch, das gibt es! Hier gab es das! Irgendwie trugen fast alle dieselben Gesichter. Nennen wir’s mal so, was ich da über den Schlipsen sah! Und was bitte teilte mir mein Hörsinn mit?

Selbstverständlich, viele der Herren waren bald mit ihren Laptops beschäftigt, versanken also rasch in eine abgeschlossene Lautlosigkeit. Doch viele andere redeten auch. Einige miteinander, einige in ihre Handys hinein. Und wieder und wieder vernahm ich da Halbsätze, Einzelwörter, hin und wieder auch klirrendes Lachen, kasernhofkurz – es gibt auch ein Lachen mit Händen an der Hosennaht! Hier hörte man es! -, gehorsamsgeil oder auch befehlsgewohnt. Zackig und auf Zack! Und das alles hörte ich da, die Wiedergaben sind gekürzt:

„Feindliche Übernahme“, „müssen wir reingehen“, „durchgezogen“, „Kaimaninseln“, „übers Limit getrieben“, „hatter dumm ausgesehen“, „im Vertrag bitte ganz hinten“, „Märchensteuer rausstreichen“, „dem schmeißen wir doch nicht noch unsere Caritas hinterher“, „rüberschieben nach Übersee“, „soll er selbst sehen“, „sind wir ein Wohltätigkeitsverein“, „Schweiz bitte nicht, auch nicht Luxemburg, Guernsey geht noch, am besten Bahamas…“

Seit diesem Flug weiß ich: die CSU hat Recht! – Nein, nicht so, wie sie es meint, nicht als Bestrafungsmaxime für Armutsmigranten aus Bulgarien, Rumänien oder sonstwo. Aber als Beschreibung alltäglicher Wirklichkeit über den Dächern unserer Republik:

Wer betrügt, fliegt!